Prof. Wolfgang Schröer (rechts) diskutiert mit Michael Schwarz (links) und Jutta Eichhorn (mitte) Prof. Wolfgang Schröer (rechts) diskutiert mit Michael Schwarz (links) und Jutta Eichhorn (mitte)
Prof. Wolfgang Schröer (rechts)
Internationalisierung

Weitblick gefragt!

Impulsbeitrag von Wolfgang Schröer

In unserem neuen Magazin „beyond“ thematisiert Prof. Dr. Wolfgang Schröer von der Universität Hildesheim in einem Impulsbeitrag das bisherige Bild der Internationalisierung der Kinder- und Jugendhilfe.

04.09.2024 / Prof. Dr. Wolfgang Schröer

Warum versteht die Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland sich nicht inter- und transnational(er)? Diese Frage ist so pauschal sicherlich nicht korrekt gestellt. Doch warum steht sie trotzdem am Anfang dieses Impulses? Es soll der Eindruck thematisiert werden, dass in Diskussionen um die Kinder- und Jugendhilfe mit dem Fokus auf internationale Bezüge schnell von einem Desiderat gesprochen und dann folgerichtig eine weitere Internationalisierung gefordert wird.

Es wird somit häufig davon ausgegangen, dass es in erster Linie darum gehe, durch einen weiteren internationalen Austausch die nationale Perspektive aufzubrechen und neue Reflexionshorizonte zu eröffnen. Keineswegs soll hier argumentiert werden, dass nicht ein gesteigerter internationaler Austausch in unterschiedlichen Feldern der Kinder- und Jugendhilfe sehr gut wäre und auch die wissenschaftliche Sozialpädagogik könnte sich – dies ist unbenommen – stärker in internationalen Forschungszusammenhängen zur Kinder- und Jugendhilfe engagieren.

Doch dieser Bedarf an Internationalisierung sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der Kinder- und Jugendhilfe, auch wie sie heute ist, vieles Inter- und Transnationales steckt. Das bisherige Bild der Internationalisierung ist stark durch die Jugendaustauschprogramme geprägt, die insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert die internationale Jugendarbeit in Europa zu einem festen Bestandteil der europäischen Verständigungs- und Friedensarbeit haben werden lassen. Hier ging es um eine zwingend notwendige Öffnung und Begegnungen, die freilich auch heute mehr als aktuell sind.

Die inter- und transnationalen Verflechtungen der Kinder- und Jugendhilfe werden zu wenig wahrgenommen

Doch dieses Bild ist insgesamt zu eng. Es ist zu eindimensional und war es vielleicht immer schon. „Beyond“ ist dieses Heft überschrieben. Übersetzt heißt dies: „Darüber hinaus“ werden die inter- und transnationalen Verflechtungen in der Entwicklung der unterschiedlichen Felder der Kinder- und Jugendhilfe zu wenig wahrgenommen. Es ist zudem umgekehrt zu fragen, warum die historischen und aktuellen Erzählungen zur Kinder- und Jugendhilfe mitunter national geschlossen werden und diese Narrative dann einige überzeugen?

Stefan Köngeter (2012) und Anja Schüler (2024) haben beispielsweise in unterschiedlichen Untersuchungen die transnationale Geschichte der Kinder- und Jugendhilfe in ihren Anfängen herausgearbeitet. Sie verweisen – wenn man so will – u. a. auf den internationalen Fachkräfteaustausch zu Beginn des 20. Jahrhunderts und wie Konzepte transnational über den Atlantik übersetzt wurden. So sind in der Jugendwohlfahrtsarbeit engagierte Frauen aus der Frauenbewegung – ein bekanntes Beispiel ist Alix Westerkamp – nach Chicago gereist, um sich dort in den Settlements darüber auszutauschen, wie junge Menschen und Familien, die aus unterschiedlichen Ländern eingereist sind, unterstützt werden können. Köngeter und Schüler belegen, dass Kinder- und Jugendhilfe sich im 20. Jahrhundert in einem transnationalen Übersetzungsprozess von Ideen, Konzepten und Austausch entwickelt hat. Dies bezog sich übrigens auch auf die Jugendarbeit und, wie Anja Schüler (2024) zeigt, ebenfalls auf andere Felder wie beispielsweise die Jugendhilfe im Strafverfahren, wie es heute genannt wird.

Wird zudem reflektiert, um mehr in die Gegenwart zu gehen, welche Bedeutung die UN-Kinderechtekonvention (UN-KRK) und UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) für die Entwicklung der Kinder- und Jugendhilfe in den vergangenen dreißig Jahren genommen haben, dann zeigt sich schnell, dass die Inter- und Transnationalität der Kinder- und Jugendhilfe nicht nur auf die Jugendarbeit und den internationalen Austausch begrenzt werden kann.

Mit den Konventionen wurden die Rechte der jungen Menschen in der Kinder- und Jugendhilfe gestärkt und beispielsweise die Beteiligung junger Menschen in den Kommunen und in gerichtlichen Verfahren sowie die Entwicklung von Ombudsstellen und Selbstvertretungen junger Menschen rechtlich geradezu eingefordert.

Weiterhin ist in den Hilfen zur Erziehung die neuere Diskussion um „Leaving Care“ vor allem auch internationalen Anregungen und transnationalen Kooperationen zu verdanken. Diese Liste könnte in die Geschichte und Gegenwart weiter ergänzt werden. Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland wird so letztlich nur verstehbar, wenn sie in ihren internationalen und transnationalen Vernetzungen wahrgenommen wird.

Die Alltagswelten von jungen Menschen sind inter- und transnational verflochten

Dabei ist noch einmal mitbetrachtet, dass wir in einer Gesellschaft leben, die als postmigrantisch (vgl. Foroutan 2021) bezeichnet wird oder in der von superdiversen (El-Mafaalani 2022) Kindheiten und Jugenden gesprochen wird. Kindheiten und Jugenden und damit die Alltagswelten von jungen Menschen sind heute inter- und transnational verflochten. Es ist, wie es in der Diskussion um eine postmigrantische Gesellschaft heißt, nicht die Frage des Ob der Internationalität und Transnationalität, sondern wie transnational Kindheit und Jugend sozial gerecht ermöglicht wird und wie wir Mobilität gestalten und leben. So kann in diesem Zusammenhang auch von Postmobilität (Karic, Bartels & Schröer 2024) gesprochen werden, da die Alltagswelten vieler junger Menschen durch Mobilitäten charakterisiert sind und sich z. B. der internationale Jugendaustausch auch fragen muss, wie für wen welche internationalen Begegnungen organisiert werden und wie sich dieses zu den inter- und transnationalen Mobilitätserfahrungen der jungen Menschen generell verhält.

Warum versteht sich die Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland nicht inter- und transnational(er)? Die Alltagswelten der jungen Menschen und die Fachentwicklung sind nur sehr begrenzt in einem nationalen Rahmen zu begreifen. Auch in der Fachkräfteentwicklung und -anerkennung brauchen wir eine transparentere Inter- und Transnationalität. Wer die Alltagswelten der jungen Menschen und die Fachentwicklung verstehen will, muss den nationalen Container öffnen und sich auf die inter- und transnationalen Verflechtungen einlassen. Auch die internationale Jugendarbeit reflektiert sich heute mit ihren Angeboten und Programmen in einer postmigrantischen Gesellschaft, in der Transnationalität und Internationalität in den Alltag der jungen Menschen eingeschrieben sind. Dies bedeutet nicht sozialräumliche, regionale, nationale Bezüge herabzusetzen, sondern diese in ihren Verflechtungen und translokalen Beziehungen zu begreifen. Die Frage bleibt, wer ein Interesse hat, die nationale Perspektive so häufig zu schließen und warum.

Literatur

El-Mafaalani, Aladin (2022): Das Integrationsparadox: Wandlungsdynamiken, Konfliktlinien und Krisenerscheinungen in der superdiversen Klassengesellschaft. Leviathan 50 (39), S. 139–157.

Foroutan, Naika (2021): Die postmigrantische Gesellschaft. Ein Versprechen der pluralen Demokratie. 2., unveränderte Auflage. Bielefeld: Transcript Verlag.

Karic, Senka/Bartels, Agnetha & Schröer, Wolfgang (2024): Internationale Kinder- und Jugendhilfe. Eine postmobile Perspektive. Hildesheim: Universitätsverlag (open access). DOI: 10.18442/268

Köngeter, S. (2009): Der methodologische Nationalismus der Sozialen Arbeit in Deutschland. In: Zeitschrift für Sozialpädagogik 7, S. 340–359.

Schüler, Anja (2024): Jugendgerichtshöfe – (auch) eine Frauensache? Das Vorbild Chicago. In: Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe 35, S. 18–23.

Fachmagazin „beyond"

Der Artikel erschien in der Ausgabe 1|24 des Fachmagazins "beyond – Internationale Impulse für die Jugendarbeit". Das Heft erscheint halbjährlich. Das Fachmagazin können Sie hier kostenfrei abonnieren. Bestehende Abonnements bleiben erhalten und müssen nicht neu angefragt werden.

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Über die Internationalisierung

Die Kinder- und Jugendhilfe mit ihren Fachkräften und Strukturen muss sich auf die wachsende Bedeutung grenzüberschreitender Lernerfahrungen einstellen.

Fachmagazin beyond

Das Fachmagazin informiert über wichtige Ergebnisse und Entwicklungen in der Internationalen Jugendarbeit und jugendpolitischen Zusammenarbeit. Beiträge aus Praxis, Politik und Wissenschaft beleuchten dabei jeweils ein aktuelles Schwerpunktthema.