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Demokratie und Menschenrechte

Teamer*innen brauchen ein breites Politikverständnis

Was kann politische Bildung für Demokratie leisten?

Der im vergangenen Herbst vorgestellte 16. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung stellt demokratische Bildung in den Mittelpunkt. Ina Bielenberg vom Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten und Hanna Lorenzen von der Evangelischen Trägergruppe für gesellschaftspolitische Jugendbildung haben im Rahmen der Sachverständigenkommission beide am Bericht mitgewirkt und möchten lieber von politischer Bildung sprechen. IJAB hat sie gefragt, was politische Bildung angesichts der Herausforderungen für die Demokratie leisten kann – auch im Bereich der Internationalen Jugendarbeit.

11.08.2021 / Christian Herrmann

IJAB: Frau Bielenberg, Frau Lorenzen, Sie haben am 16. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung mitgearbeitet. Der trägt den Titel „Förderung demokratischer Bildung im Kindes- und Jugendalter“. Warum dieses Thema?

Ina Bielenberg: Da fragen Sie die Falschen. Das Thema kommt ja nicht von uns, sondern von der Bundesregierung.

IJAB: Aber Sie haben sich ja sicher Gedanken darüber gemacht ...

Hanna Lorenzen: Ja, natürlich. Der Bericht reagiert auf aktuelle Krisenerscheinungen der Demokratie. Wir stehen vor großen Herausforderungen – Globalisierung, Rechtspopulismus und -extremismus, Klimawandel und Migration beispielsweise.

Ina Bielenberg: Wir haben uns sehr intensiv mit dem Titel auseinandergesetzt und haben uns gefragt, warum dort „demokratische Bildung“ und nicht „politische Bildung“ steht. Wir haben uns dann darauf verständigt, dass, wenn wir über politische Bildung schreiben, wir immer auch demokratische Bildung meinen.

IJAB: Warum sollte demokratische Bildung Gegenstand eines Kinder- und Jugendberichts sein? Sind junge Menschen für anti-demokratische Haltungen stärker empfänglich, als andere Altersgruppen?

Hanna Lorenzen: Das denke ich nicht. Aber die genannten Themen – wir nennen sie im Jugendbericht Megatrends – beeinflussen zentral das Aufwachsen und prägen die gesellschaftlichen Aufgaben von Kindern und Jugendlichen. Und natürlich hat es auch Auswirkungen, wie ihr Umfeld darauf reagiert. Diesen Hintergrund versuchen wir auszuleuchten.

Ina Bielenberg: Ziel von politischer Bildung ist es immer, politische Handlungsfähigkeit herzustellen. Junge Menschen müssen Selbstwirksamkeit erfahren können. Das ist vor dem Hintergrund der Komplexität der Herausforderungen nicht ganz einfach. Die Komplexität gesellschaftspolitischer Prozesse hat zugenommen und dies zieht sich als Querschnittsthema durch den Kinder- und Jugendbericht. Diese Komplexität und wie alle Herausforderungen miteinander verwoben sind, unterscheidet die heutige Welt junger Menschen von früheren Generationserfahrungen.

Gesellschaftliche Ausschlüsse finden weiter statt

IJAB: Was macht es so schwer diese komplexe Welt zu verstehen?

Hanna Lorenzen: Das hängt unter anderem mit der Größe der Herausforderungen und der Informationsvielfalt zusammen. Fridays for Future ist zum Beispiel eine Reaktion auf den Klimawandel. Das sind junge Menschen, die sich nicht damit abfinden wollen, dass unsere Welt vielleicht in wenigen Jahrzehnten unbewohnbar ist. Da das Steuer herumreißen zu wollen, ist eine gigantische Aufgabe und setzt enorm viel Wissen voraus.

Ina Bielenberg: Ein weiterer Faktor ist, wie alles miteinander verknüpft ist. Der Klimawandel zwingt immer mehr Menschen zur Auswanderung, Migration polarisiert als politisches Thema und das wiederum nützt insbesondere rechtspopulistischen Kräften . Es ist also unmöglich geworden, Phänomene isoliert zu betrachten. Aber das Gesamtbild zu sehen, verlangt uns einiges ab.

IJAB: Fridays for Future ist ja ein gutes Beispiel, wie junge Menschen politische Handlungsfähigkeit herstellen und Selbstwirksamkeit erfahren. Warum sollten wir uns dann Sorgen machen?

Hanna Lorenzen: Wir beobachten weiterhin gesellschaftliche Ausschlüsse. Bei Fridays for Future haben wir es mehrheitlich mit formal höher gebildeten jungen Menschen zu tun. Sie besuchen das Gymnasium und haben kein Problem, sich durch E-Partizipations-Tools selbst zu organisieren. Die formal niedriger Gebildeten sind dort weniger präsent. Die Digitalisierung verstärkt diesen Trend – erst recht in Verbindung mit der Corona-Pandemie.

IJAB: Was könnte politische Bildung daran ändern?

Ina Bielenberg: Um die Frage zu beantworten, wäre es gut, wenn wir mehr wüssten. Wo finden Ausschlüsse statt, wo werden junge Menschen nicht erreicht? Wir wissen zu wenig über diejenigen, die Angebote der Träger nicht wahrnehmen und warum sie das nicht tun. Uns fehlt ein Gesamtbild, dafür bräuchten wir mehr empirische Forschung. Trotzdem müssen wir natürlich Angebote machen, um Handlungsfähigkeit und Selbstwirksamkeit junger Menschen herzustellen.
Politische Bildung arbeitet nicht nur wissenszentriert. Sie muss junge Menschen auch in den Stand versetzen, sich in eine andere Person einzufühlen. Warum sieht jemand die Dinge so und ich so? Dieser Perspektivwechsel ist wichtig, denn er ist eine wichtige Voraussetzung für die Herausbildung einer begründeten eigenen Meinung und den respektvollen Umgang miteinander. Außerdem ermöglicht er die Arbeit an der eigenen Persönlichkeitsentwicklung und an einer Gruppenidentität.
Viele Träger machen in diesem Sinne hervorragende Arbeit, aber sie ist nicht flächendeckend. Es fehlt an der flächendeckenden Quantität der Angebote.

Hanna Lorenzen: Wir können Schritte beschreiben, wie politische Bildung erfolgreich funktionieren kann. Politische Bildung ist subjektbezogen, das heißt, sie orientiert sich an der Lebenswirklichkeit von jungen Menschen. Sie sieht die Dinge, die in dieser Lebenswirklichkeit von gesellschaftspolitischer Relevanz sind und greift sie auf. Sie schafft Möglichkeiten zur Urteilsbildung und ist handlungsorientiert. Aber richtig ist auch: Jenseits der Institutionen von politischer Bildung, wie zum Beispiel Jugendbildungsstätten, wissen wir zu wenig über die Orte, wo dies geschieht oder noch nicht ausreichend geschieht.

Das Politische im Alltag erkennen

IJAB: Der 16. Kinder- und Jugendbericht benennt ausdrücklich die Internationale Jugendarbeit als Ort politischer Bildung. Bei den Themen und Methoden, die sie beschreiben, ist die Nähe der beiden Bereiche offensichtlich. Da ist die Annahme verführerisch, dass bei jeder internationalen Begegnung auch politische Bildung stattfindet. Ist das so?

Hanna Lorenzen: Wir haben im Jugendbericht auch deutlich gemacht, dass politische Bildung in allen Handlungsfeldern der Jugendarbeit stattfinden kann. Politische Themen sind natürlich überall, besonders auch in der Internationalen Jugendarbeit. Aber es gibt keinen Automatismus dafür, dass tatsächlich auch politische Bildung stattfindet. Der These, dass jeder internationale Austausch immer auch politische Bildung ist, kann ich nicht zustimmen. Wenn es keine Reflexion gibt, dann können sich die ursprünglichen Absichten sogar in ihr Gegenteil verkehren und zum Beispiel Vorurteile verhärten.
Es ist auch nicht jede Form der Partizipation gleich politische Bildung. Wenn darüber abgestimmt wird, welches Spiel heute gespielt wird, oder welches Essen gekocht wird, dann fehlt noch die Reflexionsebene und der Transfer in den gesellschaftspolitischen Kontext. Dabei könnte das Thema Essen ja eigentlich ein wunderbarer Aufhänger für politische Bildung sein. Aber ohne Reflexion ist es das eben nicht.

IJAB: Wo sollen Teamer*innen und Betreuer*innen diese Fähigkeit, Reflexionsprozesse anzuschieben, herhaben? Müsste das nicht in ihrer Ausbildung eine größere Rolle spielen?

Ina Bielenberg: Ja, es wäre tatsächlich die Aufgabe von politischen Bildner*innen, dazu etwas beizutragen. Wenn zum Beispiel während eines Workcamps eine rassistische Beleidigung fällt, dann kann man das als individuelles Problem abtun. Man kann es aber auch aufgreifen und Rassismus als gesellschaftliches Phänomen thematisieren – dann wird politische Bildung daraus. Dafür müssen Teamer*innen geschult werden.

Hanna Lorenzen: Teamer*innen brauchen ein sehr breites Politikverständnis. Sie müssen das Politische in den Ansichten von jungen Menschen sehen. Das muss Teil einer Haltung sein.

IJAB: Lange Zeit wurden vor allem die individuellen Kompetenzzuwächse, also beispielsweise Selbstvertrauen und Selbständigkeit, betont, wenn es um die Wirkung internationalen Austauschs ging. Hat das ungewollt einer zunehmenden Entpolitisierung Vorschub geleistet?

Ina Bielenberg: Dazu haben wir zu wenig empirische Daten aus der Bildungspraxis, um das beantworten zu können. In der Jugendarbeit gibt es aber tatsächlich häufig eine zu kurz gegriffene Gleichsetzung von demokratischen Beteiligungserfahrungen und politischer Bildung. Nach unserem Verständnis gehört zur politischen Bildung, dass diese auch einen gesellschaftspolitischen Transfer dieser Erfahrungen und eine dezidiert politische Handlungsorientierung anstrebt. Ich denke aber, dass es Unterschiede gibt. Bei einem deutsch-israelischen Jugendaustausch wimmelt es wahrscheinlich von politischen Themen aber nicht jedes europäisch geförderte Projekt wird auch zwangsläufig Bildung zu Europa vermitteln.

Kontakt

Ina Bielenberg (Geschäftsführerin des Arbeitskreises deutscher Bildungsstätten), bielenberg@adb.de

Hanna Lorenzen (Bundestutorin für politische Jugendbildung und stellvertretende Generalsekretärin der Evangelischen Akademien in Deutschland), lorenzen@politische-jugendbildung-et.de

Dieser Beitrag erschien im IJAB journal 1/2021.

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