Eine Gruppe Menschen verschiedener Altersgruppen steht auf einer Bühne mit einer Podiumsrede, umrahmt von Bildschirmen, die Grafiken und Text anzeigen, darunter „Львів - молодіжна столиця Європи 2025“, „Рух починається з тебе!“ und „2025“. Eine Gruppe Menschen verschiedener Altersgruppen steht auf einer Bühne mit einer Podiumsrede, umrahmt von Bildschirmen, die Grafiken und Text anzeigen, darunter „Львів - молодіжна столиця Європи 2025“, „Рух починається з тебе!“ und „2025“.
Offizielle Eröffnung der "Europäischen Jugendhauptstadt 2025" in der Oper von Lwiw
Demokratie und Menschenrechte

„Es ist nicht leicht, aber mach weiter!“

Lwiw ist die Europäische Jugendhauptstadt 2025

In Lwiw, der Kulturmetropole im Westen der Ukraine, gibt es etwas zu feiern: Lwiw ist die Europäische Jugendhauptstadt 2025. Es ist ein Feiern mit bitterem Beigeschmack, denn die jungen Menschen der Stadt leiden in vielerlei Hinsicht unter dem Krieg – und beweisen dennoch ein bemerkenswertes Maß an Widerstandsfähigkeit. Unser Kollege Christian Herrmann hat sich vor Ort umgesehen.

09.04.2025 / Christian Herrmann

Früher war es leicht, in die Ukraine zu reisen, aber seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs ist der Luftraum geschlossen. Dafür boomen kleine Flughäfen im Grenzgebiet. Jasionka ist der Flughafen von Rzeszów, 90 Kilometer von der polnisch-ukrainischen Grenze entfernt. Wo früher nur Zubringerflüge von LOT nach Warschau abhoben oder allenfalls ein Ferienflieger nach Sharm El-Sheikh, starten und landen nun internationale Airlines und die Militärtransporter der Unterstützer der Ukraine. Einmal in der Woche gibt es sogar einen Direktflug nach New York. Der Flughafen gleicht einer Festung: Drei Patriot-Abwehrsysteme schützen den Flughafen – zwei aus Norwegen, eines aus Deutschland.

Ukrainische Busunternehmen haben sich auf die neue Situation eingestellt. Nahezu jede Stunde geht ein Bus von Jasionka nach Lwiw, der Metropole im Westen der Ukraine. Die Online-Buchung ist einfach und die Busse meist zuverlässig. Das ist schon ein Kunststück, denn die polnischen Grenzkontrollen sind streng und führen oft zu stundenlangen Verspätungen. Mein persönlicher Rekord liegt bei 13 Stunden Wartezeit. Diesmal ist es leicht, nach zwei Stunden ist der Bus abgefertigt. Es sind hauptsächlich Frauen mit ihren Kindern im Bus. Sie sind irgendwo in Europa gestrandet, jetzt besuchen sie Freunde und Angehörige. Ich bin der einzige internationale Reisende im Bus. Mehrfach passieren wir lange Militärkonvois, die gepanzerte Fahrzeuge über die Grenze schleppen.

Lwiw liegt etwa 75 Kilometer von der Grenze entfernt. Das erste, was wir sehen, sind die Panzersperren aus den ersten Tagen des Krieges. Zu der Zeit konnte niemand vorhersehen, wie schnell der russische Vormarsch vorangehen würde. Seit den katastrophalen Niederlagen der russischen Armee bei Kyjiw und Charkiw sind die Panzersperren verwaist. Vor russischen Panzern muss man sich hier nicht fürchten, wohl aber vor russischen Raketen und Drohnen – und Luftalarm gibt es fast täglich.

Lwiw ist schön wie immer. Seit mehr als 20 Jahren besuche ich die Stadt regelmäßig. Unser Bus passiert die „historischen Zwiebelschalen“ der Stadt – die sowjetischen Wohnbauprojekte aus den Zeiten von Breschnew und Chruschtschow, die Gebäude im Stil der internationalen Moderne aus der Ära zwischen den Weltkriegen, den Ring aus Historismus und Jugendstil aus der österreichischen Periode und die mittelalterliche Altstadt. Polen, Juden, Ukrainer, Deutsche, Armenier und viele andere haben hier gelebt. Lwiw ist ein Europa „in a nutshell“. Der Titel „Europäische Jugendhauptstadt“ ist völlig verdient. Der Tragödie besteht darin, dass es eines Krieges bedurfte, um Europa daran zu erinnern, was es auch ist – nicht nur Berlin, Paris und Madrid, sondern auch Lwiw.

„Ihr seid nicht allein, ihr seid niemals allein!“

Am nächsten Morgen begrüßt mich Lwiw mit Sonnenschein und milden Frühlingstemperaturen. Ich werfe einen Blick vom Balkon meines Hotels und sehe große Gruppen von jungen Menschen vorbeispazieren. Die Stadtverwaltung von Lwiw hat ein umfangreiches Programm von Workshops und Kulturevents auf die Beine gestellt, um den Titel „Europäische Jugendhauptstadt“ zu feiern. Das Programm zieht junge Menschen aus dem ganzen Land an. Später höre ich, dass die Züge wegen der vielen jugendlichen Besucher*innen überfüllt waren. Aber auch sonst ist Lwiw eine junge Stadt. Mehrere große Universitäten machen die Stadt für junge Menschen aus der ganzen Ukraine attraktiv. Man sieht es an den vielen Szene-Cafés, Restaurants und Galerien.

Die feierliche Eröffnung der Europäischen Jugendhauptstadt 2025 findet in der prächtigen Oper statt. Das Architekturbüro Fellner und Helmer aus Wien hat das Gebäude errichtet. Damals hieß Lwiw noch Lemberg und war Teil des österreichisch-ungarischen Imperiums. Entsprechend aufgebrezelt ist das Publikum. Ich fühle mich etwas „underdressed“. Aber meine Sitznachbarn sind nett – zwei junge Litauer vom dortigen Jugendring und ein Pole, der „Wissenschaftsclubs“ für junge Menschen in ganz Europa initiiert hat. Polen und Litauer kommen nach Lwiw, Deutsche vermag ich im Publikum nicht auszumachen.

Was dann folgt, ist ein Schaulaufen der europäischen Institutionen – Europäisches Parlament, Europäische Kommission, Europäisches Jugendforum, Europarat. Dazu gesellen sich UNICEF, die die ukrainischen Jugendzentren finanziert haben, der ukrainische Jugendminister, die ukrainische Jugendministerin für Kommunikation und einige mehr. Die Veranstaltung ist eine große Demonstration europäischer Solidarität.

Wer mich und das Publikum am meisten als Redner fesselt ist Matjaž Gruden, Direktor für Demokratie beim Europarat und damit auch für den Bereich Jugend zuständig. Er stammt aus Slowenien und erinnert sich deutlich an die ersten Tage des Jugoslawienkrieges. Am frühen Morgen schreckten ihn, der damals ein Kind war, die Sirenen aus dem Schlaf. Seine Eltern hatten Mühe, ihm zu erklären, was das bedeutet. Slowenien war nur wenige Tage im Krieg, Lwiw ist es nun seit mehr als drei Jahren. Aber die Menschen verstehen Grudens Botschaft und er fasst sie sehr einfach zusammen: „Ihr seid nicht allein, ihr seid niemals allein!“ Dieser Abend ist ein Stück gelebte europäische Integration.

Mehrfach erinnern Redner*innen an das Schicksal von Yaryna Bazylevych. Sie war Projektleiterin der Europäischen Jugendhauptstadt. Sie war 21 als sie, ihre beiden Schwestern und ihre Mutter bei einem russischen Raketenangriff auf Lwiw am 4. September 2024 getötet wurden.

Das macht der Krieg mit jungen Menschen

Am folgenden Tag gibt es nur einen offiziellen Programmpunkt: Eine Erinnerungsveranstaltung in der Garnisonskirche für die im Krieg getöteten und gefallenen Menschen. Ich nutze den Tag für Interviews. Am Morgen treffe ich Natalia Shevchuk vom National Youth Council of Ukraine zum Frühstück. Wir kennen uns seit Jahren, sind uns aber bisher nie persönlich begegnet. Ich eröffne das Interview mit einer ziemlich dummen Frage: Was macht der Krieg mit jungen Menschen? „Das kann ich dir sagen“, antwortet mir Natalia, „ich hatte dir einmal Ivan Paramonov als Interviewpartner vermittelt, er ist tot, im Donbas gefallen. Das macht der Krieg mit jungen Menschen.“

Am Nachmittag treffe ich Andriy Moskalenko. Er ist stellvertretender Bürgermeister von Lwiw. Er und sein Team sind für die Europäische Jugendhauptstadt auf Seiten der Stadtverwaltung zuständig und haben offensichtlich einen guten Job gemacht. Ich bin ihm dankbar, dass er mich trotz des ganzen Stresses empfängt. Auf dem Schreibtisch in seinem Vorzimmer liegt ein durchschossener Helm. Ich frage ihn, ob der noch vom Euro-Maidan, der Revolution von 2014, stammt. „Nein“, sagt Andriy, „der ist aus dem Krieg.“ Ich frage ihn, was ihm am Titel Jugendhauptstadt wichtig ist. „Dass Europa auf uns schaut“, antwortet er mir.

Die Abendveranstaltung in der Garnisonskirche ist so überfüllt, dass ein Durchkommen unmöglich ist. Ich kehre am nächsten Tag zurück. Ich mag diese Kirche. Die Sowjets hatten ein Archiv aus ihr gemacht, als letzte Kirche in Lwiw wurde sie an eine christliche Gemeinde zurückgegeben. Die Restaurierungsarbeiten sind daher noch nicht abgeschlossen. Das macht den besonderen Charme dieses prachtvollen Barockgebäudes aus. Die Kirche wird vom örtlichen Militär genutzt, Lwiw ist ein wichtiger Militärstandort. Hier werden Soldaten verabschiedet, wenn sie in den Krieg geschickt werden. Hier finden die Trauerfeiern statt, wenn sie tot zurückkehren. In einem Seitengang sind lange Reihen von Porträts gefallener Soldaten ausgestellt. Eine ältere Frau steht vor einem der Porträts, berührt es mit der Hand und weint lautlos. Vielleicht war das ihr Sohn, ihr Mann oder einfach jemand, den sie gekannt hat.

Dann machen wir eben alleine weiter

Das „Grand Opening“ findet an einem Samstag statt. Das gibt vielen jungen Menschen die Gelegenheit daran teilzunehmen. Das Programm geht von 11 Uhr morgens bis 11 Uhr abends – Workshops, Konzerte, Lesungen. Viele Dinge, die zum Mitmachen einladen. Gefeiert wird in der „Festrepublic“, einem ehemaligen Fabrikgelände am Stadtrand. Die Location könnte ebenso gut in Berlin stehen. Ich bin mit meinem Freund Oleksii und seiner Freundin Anastasiia verabredet. Oleksii leitet BUR – Building Ukraine Together – eine Jugend-NGO, die seit Beginn des Krieges im Donbas Häuser in den Kriegsgebieten repariert oder wiederaufbaut. Die Menschen aus dem Westen und Osten der Ukraine sollen so zusammengebracht und Vorurteile abgebaut werden.

Oleksii und seine Organisation sind ein gutes Beispiel für die Widerstandsfähigkeit der Ukraine und ihrer Jugend. Die ukrainische Gesellschaft lebt von solchen Menschen, selbst die Armee. Auch BUR ist von der Einstellung von USAid betroffen. Die Antragstellung war einfacher, als die entsprechenden europäischen Programme. Oleksii hätte gerne Partnerorganisationen in Deutschland oder anderen europäischen Ländern, aber die sind auf Jahre mit ihren Planungen festgelegt und Freiwillige mag auch niemand in die Ukraine schicken. Wir sprechen über Trump und die jüngsten Entwicklungen. „Dann machen wir eben alleine weiter“, sagt Oleksii.

Tun wir genug?

Am Abend treffe ich meine Freunde Sascha und Mascha. Sie haben zwei Kinder adoptiert. Der Junge kommt dieses Jahr in die Schule, seine kleine Schwester ist etwa zwei Jahre jünger. Ich frage sie, was die Kinder vom Krieg mitbekommen und wie sie mit ihm umgehen. „Ich gehe manchmal zum Soldatenfriedhof auf dem Marsfeld, um nach den Gräbern von Freunden zu schauen“, erklärt mir Sascha, „dann nehme ich die Kinder mit.“ Die Kinder fragen dann, wo die Menschen jetzt sind, die dort begraben sind. „Ich sage ihnen, dass sie in unseren Herzen sind“, sagt Sascha. In dieser Nacht dauert der Luftalarm bis zum frühen Morgen.

Am nächsten Tag bin ich wieder auf der Rückreise in Rzeszów und Jasionka. Bei meiner letzten Reise war mein Hotel voll mit Menschen von allen möglichen humanitären Organisationen, diesmal ist es ziemlich leer, Beim Frühstück komme ich mit einer ukrainischen Übersetzerin ins Gespräch. „Ich habe noch Arbeit“, erzählt sie mir, „aber fast alle meine Kolleginnen sind von einem Tag auf den anderen von USAid gefeuert worden.“

Am Flughafen Jasionka spreche ich einen Amerikaner an, der sehr nach US-Militär aussieht. Er war in Kyjiw, „Security“, sagt er mir – also wahrscheinlich Geheimdienst. Er ist auf meinen Flug nach München gebucht, ist aus der Ukraine abgezogen worden und jetzt auf dem Weg in den Urlaub. Mit viel Gedröhn landet ein Flugzeug der deutschen Luftwaffe auf dem Flugfeld. Wenigstens dieser Nachschub funktioniert noch.

Ich muss an meinen Freund Oleksii denken, an die weinende Frau in der Garnisonskirche, an die Kinder von Sascha und Mascha. Die Europäische Jugendhauptstadt 2025 hat ein Motto: Not easy but move – es ist nicht leicht, aber mach weiter. Ja, leicht ist es wirklich nicht und es könnte der Tag kommen, an dem wir jungen Menschen in der Ukraine erklären müssen, warum wir nicht mehr getan haben.

INT 4.0 – Namensnennung CC BY 4.0
Dieses Werk ist lizenziert unter einer INT 4.0 – Namensnennung CC BY 4.0 Lizenz.
Ein junger Mann spricht in ein Mikrofon
Über Demokratie und Menschenrechte

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