Japan

Einblicke und Erfahrungen bei multilateralem Fachkräfteaustausch in Japan

Praxisnahes Wissen für die Jugendarbeit

Vom 22.02. bis zum 08.03.2016 kamen Vertreter/-innen aus vier Nationen – Deutschland, UK, Österreich und Japan – zum Young Core Leaders of Civil Society Groups Development Program in Tokio zusammen. Das wesentliche Ziel dieses internationalen Fachaustausches besteht darin, junge Fachkräfte zu qualifizieren, ein internationales Netzwerk aufzubauen sowie in gemeinsamen Diskussionen der japanischen Seite so viel praxisnahes Wissen wie möglich zur Verfügung zu stellen um Lösungsansätze zu aktuellen, sozialen Herausforderungen zu erarbeiten. Catrin Czymoch und Tom Ismer berichten.

26.04.2016 / Catrin Czymoch & Tom Ismer

Vier junge deutsche Fach- und Leitungskräfte aus dem Tätigkeitsbereich Jugend nahmen am diesjährigen multilateralen Fachkräfteaustausch teil.

In den ersten Tagen des Fachkräfteaustausches stand neben der offiziellen Begrüßung durch VertreterInnen des Cabinet Office sowie fachlichen und organisatorischen Einführungsveranstaltungen die Besichtigung unterschiedlicher Einrichtungen Tokios auf dem Programm. In einer von drei Gruppen wurde bspw. die PricewaterhouseCoopers AG besucht, zu dessen wesentlichen Dienstleistungen die Wirtschaftsprüfung, Steuerberatung, Corporate Finance und Krisenbewältigung gehört.

Hier wurde ein bis dahin einzigartiges Projekt vorgestellt, bei dem ein PricewaterhouseCoopers-Mitarbeiter für ein Jahr in eine Bildungsinstitution entsandt wurde um dort Missstände aufzudecken und Veränderungen wie das Einführen von Fundraising-Events anzuregen – und das alles ohne Kostenbeteiligung seitens der Bildungseinrichtung. Ein gutes Beispiel für eine gelingende Kooperation zwischen einem Großunternehmen und einer Non-Profit-Organisation (NPO).

Beim Besuch der NPO Service Grant wurde über die Umsetzung des Pro-Bono-Programms gesprochen, bei dem sich Mitarbeiter/-innen bereit erklären, ein wenig ihrer Freizeit für soziales Engagement zu nutzen. Entscheiden können die Helfer/-innen zwischen 3 Zeitmodellen, wobei nach Ablauf des vorab festgelegten Hilfezeitraums die ehrenamtliche Unterstützung für beendet erklärt wird ohne Möglichkeit der Verlängerung. Gearbeitet wird bei diesem Pro-Bono-Konzept im Team, um durch die Stärkung eines Wir-Gefühls die ehrenamtlichen Mitarbeiter/-innen in ihrer Fähigkeit der Teamarbeit zu fördern, Verantwortlichkeit herzustellen und sie an das Projekt verlässlich zu binden.

Beim anschließenden dreitägige NPO-Management-Forum im National Olympics Memorial Youth Center in Tokio, diskutierten junge japanische Fachkräfte gemeinsam mit den internationalen Gästen über die Frage, wie die Zusammenarbeit und Kooperation zwischen NPO‘s und Wirtschaftsunternehmen erfolgreich gelingen kann. Es wurde in den Gesprächen deutlich, dass der soziale Sektor in Japan noch jung ist und sozialpädagogische Arbeiten derzeit häufig noch durch nicht oder schlecht bezahlte Volontäre und Mitarbeiter/-innen ausgeübt werden. Den Berufszweig des Sozialarbeiters mit entsprechender universitärer Ausbildung, Titulierung und Bezahlung, wie wir ihn aus europäischen Ländern kennen, gibt es in der Form in Japan noch nicht.

Seit der Tsunami-Katastrophe 2011 wuchs der soziale Bereich und gemeinnützige Einrichtungen wurden vermehrt gegründet. Was die Fachkräfte aller Länder verbindet, ist der Wunsch nach einer gut gelingenden, fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen gemeinnützigen Einrichtungen und Großunternehmen, da eine Kooperation für beide Parteien Vorteile bereit hält. Das Schaffen einer Win-win-Situation wurde in den Fachdiskussionen als übergeordnetes Ziel herausgearbeitet, in der sowohl NPOs, Großunternehmen sowie die gesamte Gesellschaft aus der Kooperation ihren Nutzen ziehen können.

Anschließend an das NPO-Management-Forum flogen die vier deutschen Fachkräfte aus dem Arbeitsfeld Jugend gemeinsam mit jeweils vier Delegierten aus Großbritannien sowie Österreich nach Wakayama, wo die Gruppe im Laufe der Woche noch viel über Land und Leute dieser außergewöhnlichen Präfektur erfahren durfte. Auf der Fahrt durch die wunderschöne Natur Wakayamas, vorbei an Orangen- und Pflaumenplantagen, wurden unterschiedliche gemeinnützige Einrichtungen angesehen, durch die jeweilige Leitung der Einrichtungen vorgestellt und Diskussionen geführt.

Die erste Einrichtung, die im Rahmen des lokalen Programms besichtigt wurde, heißt Seaca. Seaca ist ein Verein in der Nähe von Minabe Town in der Präfektur Wakayama, der überwiegend sportliche jedoch auch musisch-kreative Kurse anbietet. Im Jahr 2011 trainierte dort die japanische Frauenfußballnationalmannschaft, die wenige Wochen später erstmals die FIFA Weltmeisterschaft gewinnen konnte. Seaca bietet für nur 500 Yen (umgerechnet knapp 4 Euro) im Monat den Mitgliedern mehrere Sportangebote an, wie beispielsweise Fußball, Basketball, Baseball, Volleyball, Judo, Karate oder Aikido. Im monatlichen Clubmagazin werden auf der Titelseite die jeweils erfolgreichsten Sportler/-innen oder Mannschaften abgebildet, was den Anreiz hoch halten soll, sportliche Leistung zu erbringen. In diesem Magazin wird auch über vergangene und bevorstehende Events berichtet und für den Verein geworben.

Kampf gegen sozialen Rückzug und Verwahrlosung

Für eine NPO in einem eher gering besiedelten, ländlichen Gebiet verfügt Seaca über ein vielfältiges Angebot, welches für geringes Geld genutzt werden kann. Die Art und Weise auf sich aufmerksam zu machen, indem die Trainer und Mitglieder des Vereins an bestimmten Tagen gemeinsam mit lauter Musik sowie ansprechendem Equipment auf die Straße gehen und Passanten spontan dazu motivieren, verschiedene Sportarten auszuprobieren und so für neue Mitglieder zu werben, ist eine kreative, zielführende Idee. Sport führt Menschen jeglichen Alters zusammen und ist wichtig für Jedermann.

Eine weitere Einrichtung die im Rahmen des regionalen Programms besichtigt wurde, heißt Heart-Tree. Heart-Tree beschäftigt sich fast ausschließlich mit Jugendlichen, die als sogenannte Hikikomori (Wortbedeutung: gesellschaftlicher Rückzug) in Japan bezeichnet werden. Als Jugendlich gelten hier Menschen im Alter von 13 bis ca. 30 Jahren. Bei den Hikikomori handelt es sich um Personen, die sich über einen gewissen Zeitraum (länger als 6 Monate) isolieren, in ihrer Wohnung oder aber auch in ihrem Zimmer einschließen und den Kontakt zur Gesellschaft und u.a. auch zu den Eltern auf ein Minimum reduzieren. Die Begrifflichkeit bezieht sich sowohl auf das soziologische Phänomen als auch auf die Betroffenen selbst, bei denen die Merkmale unterschiedlich ausgeprägt sein können. Die Laufbahn eines Hikikomori startet jedoch meist mit schuldistanziertem Verhalten.

Die Fachkräfte bei Heart-Tree werden überwiegend von besorgten Nachbarn oder aber auch Eltern informiert, woraufhin sie Kontakt zu den jungen Menschen aufnehmen und versuchen, sie zu unterstützen und zurück ins gesellschaftliche Leben zu führen. Dies geschieht meist im direkten Kontakt und weniger durch soziale Gruppenarbeit. Es wurde diskutiert, dass die Methode der sozialen Gruppenarbeit die Chance bereit hält, Jugendliche ihre soziale Funktionsfähigkeit durch Gruppenerlebnisse erkennen zu lassen und so ihre Sozialkompetenz zu stärken, um letztlich persönlichen als auch Gruppen- und Gesellschaftsherausforderungen besser gewachsen zu sein. Die Arbeit in der Gruppe mit auffälligen Jugendlichen geschieht bei Heart-Tree in einem eher informellen Rahmen.

Die Einrichtung verfügt über mehrere Clubhäuser verteilt im Stadtgebiet in denen sich Jugendliche treffen können und an verschiedenen Aktionen – vornehmlich Bastel- und Küchentätigkeiten – teilnehmen können. Ebenso betreibt diese Non-Profit-Organisation einen kleinen Bäckereibetrieb, in dem Hikikomori auch Kekse und Kuchen eigenständig backen können. Die hergestellten Backwaren werden zum Teil im eigenen Café zum Kauf angeboten. Der Erlös der verkauften Ware kommt dann der Organisation zugute.

Im Gespräch mit der Mutter eines ehemaligen Hikikomori war herauszuhören, dass es in Japan nicht „normal“ ist, über Themen wie gesellschaftlicher Rückzug oder Schuldistanz offen zu reden. Das Bildungssystem und entsprechende Bildungseinrichtungen werden in Japan als überaus wichtige Instanzen gesehen, die eine wesentliche Rolle in der Gesellschaft einnehmen und als Garant für Produktivität sowie Erfolg gelten. Von der gesellschaftlichen Norm abzuweichen und beispielsweise durch schlechte Schulnoten aufzufallen, beschämt Kinder, Jugendliche und ihre Familien. In diesem sozialen Rahmen empfinden junge Menschen, vor allem Männer, denen vermehrt noch die Rolle zugedacht wird Versorger der Familie zu sein, einen enormen Leistungsdruck. Dieser Druck kann Versagensängste und Minderwertigkeitsgefühle hervorrufen. Die Angst in der Gesellschaft nicht bestehen zu können, kann lähmend wirken und zu sozialem Rückzug führen. Im Rahmen der Diskussionen wurden herausgearbeitet, dass in Europa schulabstinente oder arbeitslose Personen auf die Straße gehen, sich hier an bestimmten Plätzen treffen und in der Gesellschaft vermehrt offen mit dem Thema umgegangen wird. Geld vom Arbeitsamt zu erhalten, wird vom Großteil der Betroffenen nicht als so beschämend empfunden, wie es in Japan der Fall ist, wenn man keiner Arbeit nachgeht, was einem Gesichtsverlust gleichkommt. So ist auch die Tendenz japanischer Hikikomori zum sozialen Rückzug und Verwahrlosung zu erklären.

Engagement in der Gesellschaft

Als letzte Einrichtung wurde die Kumano Senior High-School besucht. Vier Schüler/-innen und ihre Lehrerin stellten ein Projekt vor, bei dem die Lernenden sich in unterschiedlichen Bereichen sozial engagieren. In erster Linie unterstützen die Jugendlichen dieser Projektgruppe ältere Menschen, indem sie diese zu Hause besuchen, mit ihnen gemeinsam kleinere Spaziergänge oder Einkäufe unternehmen, mit ihnen spielen und sich unterhalten.  Ziel des Projekts ist es, dass junge Menschen sich in der Gesellschaft engagieren, ein offenes Ohr für die Belange bedürftiger Menschen haben und die sozialen Kompetenzen der Schüler/-innen bereits in frühem Alter geweckt und gefördert werden.

In den Fachdiskussionen wurde von japanischer Seite hervorgehoben, dass in Japan Angebote zur Förderung sozialer Teilhabe in der Gesellschaft eher mäßig angenommen werden. Präsentationen deutscher Delegierter über Angebote wie z.B. Kooperationen mit Landessportbünden oder Schulen stießen auf Interesse. Dass japanische Schüler/-innen im Rahmen eines schulischen Nachmittagsangebots die Möglichkeit erhalten, sich sozial zu engagieren und sich entsprechend fortzubilden, ist hervorzuheben. Die Idee, am Ende den Schüler/-innen eine Urkunde auszuhändigen, ähnlich wie das Zertifikat das Kinder in Deutschland erhalten, wenn sie die Konfliktlotsenausbildung erfolgreich abgeschlossen haben, wurde positiv angenommen. Solch ein Zertifikat motiviert den Helfenden und macht sich zudem gut als Referenz im Lebenslauf der Schüler/-innen.

Dass Menschen mehr und mehr Verantwortung in der stetig älter werdenden Gesellschaft übernehmen, ist sehr bedeutsam. Auch wenn vor allem in Japan der demografische Wandel – verminderte Geburtenrate, hohe Lebenserwartung – ein Umdenken der Bevölkerung erfordert, so gewinnt das Thema auch in europäischen Ländern an Aktualität. Die ersten Samen der Hilfsbereitschaft und des Mitgefühls werden bereits in der Kindheit gesät, was bedeutet, dass Kindertageseinrichtungen und vor allem Schulen nicht mehr nur die Funktion der Vermittlung von Fachwissen wie Mathematik zu übernehmen haben. Es ist wichtig, dass junge Menschen soziale Kompetenzen wie Verantwortung, Toleranz, Empathie oder Teamarbeit bereits im Schulalter erlernen. Von japanischer Seite wurde die zu erlernende Fähigkeit hervorgehoben, in altersgemischten Gruppen zu interagieren und zu kommunizieren, da in dieser Zusammenarbeit ein großes Lernpotenzial und Gewinnmöglichkeiten für jede Partei liegen.

Im Gespräch wurde herausgearbeitet, dass es enorm wichtig erscheint Zeit darin zu investieren, junge verantwortungsbewusste Fach- und Führungskräfte zu finden, diese zu fördern und entsprechend auszubilden. Ältere Menschen bleiben in ihren Wohnungen in ländlichen Gebieten zurück, während die junge Generation in die größeren Städte zieht. Um diese ältere Generation muss sich gekümmert werden. Bereits jungen Fachkräften sollte aufgezeigt werden, dass sie selbst wertvoll sind und in der Gesellschaft gebraucht werden und dass sofern sie bleiben und Verantwortung übernehmen, sie die Chance haben, bereits in jungen Jahren gut ausgebildet und gefördert zu werden.

Vorstellung der Ergebnisse

Nach der Rückreise nach Tokio wurden die einzelnen Ergebnisse der drei unterschiedlichen Lokalprogramme (Jugend, Menschen mit Behinderungen, ältere Menschen) vor Vertreter/-innen des Cabinet Office und sämtlichen Fachkräften vorgestellt sowie gemeinsam diskutiert. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass in jeglichen Vorstellungen des jeweiligen lokalen Programms deutlich wurde, wie wertvoll die Zusammenarbeit zwischen NPOs und Großkonzernen ist. NPOs benötigen vor allem finanzielle Unterstützung sowie „helfende Hände“ und können im Gegenzug u.a. anbieten, das Personal in Unternehmen im Bereich „social skills“ fit zu machen. Netzwerkarbeit stellt das Medium der schnell wachsenden und sich stetig entwickelnden Gesellschaft dar. Das Personal muss Kreativität zeigen, an Türen klopfen und bereit sein, neue Wege zu gehen. Wichtig ist der Face-to-Face Kontakt. Bei NPOs – vor allem in einem Land wie Japan, wo das Sozialwesen  noch in seinen Anfängen steckt –  ist es wichtig, dass die Mitarbeiter/-innen mutig und selbstbewusst auftreten und zeigen, was sie zu bieten haben: „Tu Gutes und sprich drüber“. In diesem Rahmen wurden Optionen besprochen, sich der Öffentlichkeit zu präsentieren und für mehr Aufmerksamkeit zu sorgen. Fundraising-Aktionen wurden diskutiert und es wurde deutlich, dass die Möglichkeit der Akquisition in Japan noch kaum genutzt wird. Ein Beispiel für eine sinnvolle und kreative Fundraising-Kampagne bietet das Label innocent. Hierbei wurde jede Smoothie-Flasche mit einer kleiner Strickmütze versehen, die dem Kunden bildlich zeigte, dass wenn er eins dieser Produkte kauft, ein gewisser Geldanteil für die Beschaffung von Kleidung für frierende Obdachlose gespendet wird und er mit dem Kauf Gutes tut.

Abschließend bleibt festzuhalten, dass in den zwei arbeitsreichen Wochen nicht nur viele neue fachliche Einblicke erlangt und Erfahrungen ausgetauscht sowie gesammelt werden konnten. Es entstand ein wertvolles und nachhaltiges Netzwerk über die Ländergrenzen hinaus, von dem sämtliche Fachkräfte auch nach Beendigung des Programms noch profitieren können. Die deutsche Delegation bedankt sich beim Cabinet Office sowie dem BMFSFJ und IJAB für die außergewöhnliche Chance, am multilateralen Fachkräfteaustausch in Japan teilgenommen haben zu dürfen.

Für den Bereich Jugend nahmen nachfolgende Fachkräfte aus verschiedenen Städten Deutschlands teil: Tom Ismer (Deutscher Ju-Jutsu Verband e.V.), Catrin Czymoch (Familientreff Wittenau, Elisabethstift), Tanja Reißer  (Jugendwerk der AWO Württemberg e.V.) sowie Thomas Rzepus (Horizont e.V. Nordhausen). Die deutschen Teilnehmer/-innen bewarben sich bei der Fachstelle für Internationale  Jugendarbeit  (IJAB) und Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen e.V. (BAGSO) und wurden letztlich vom Bundesministerium für Familie, Soziales, Frauen und Jugend (BMFSFJ) ausgewählt.

Vier junge Frauen schauen in die Kamera.
Über die Zusammenarbeit mit Japan

Seit 50 Jahren führt IJAB Fachkräfteprogramme mit Japan durch - eine Zusammenarbeit mit großer Kontinuität. Erfahren Sie mehr über diese Kooperation und wie Sie daran teilhaben können.

Ansprechpersonen
Claudia Mierzowski
Referentin für internationale jugendpolitische Zusammenarbeit
Tel.: 0228 9506-109
Portrait Timo Herdejost
Timo Herdejost
Sachbearbeitung
Tel.: 0228 9506-130
Publikationen zu Japan
Hintergrundinformationen
Jugend und Medien in Japan
Dokumentation des Deutsch-Japanischen Studienprogramms vom 25. Mai - 08. Juni 2019 in Japan
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