Lena Nyberg, Generaldirektorin, MUCF Lena Nyberg, Generaldirektorin, MUCF
Internationalisierung

Verwundbarkeit Jugendlicher in kriminellen Netzwerken

Interview mit Lena Nyberg über die Situation in Schweden

In Schweden bestehen seit vielen Jahren Probleme mit Bandenkriminalität, Waffenbesitz und einer sehr hohen Mordrate im Vergleich zu anderen EU-Ländern. Auffällig ist, dass die an kriminellen Delikten beteiligte Personen immer jünger werden: minderjährige Jugendliche und zunehmend auch Kinder fungieren als Drogen- und Waffenkuriere oder verüben Auftragsmorde. In der jüngsten Zeit hat sich die Situation weiter verschärft. IJAB hat mit Lena Nyberg, der Generaldirektorin der Schwedischen Agentur für Jugend und Zivilgesellschaft (Swedish Agency for Youth and Civil Society, MUCF) gesprochen und nach den Ursachen und Entwicklungen der Jugendkriminalität sowie der Arbeit ihrer Organisation MUCF zum Thema Gewaltprävention gefragt.

07.10.2024 / K. Wondratschek

IJAB: Bitte beschreiben Sie kurz Ihren beruflichen Hintergrund und für welche Organisation Sie arbeiten.

Lena Nyberg: Ich bin die Generaldirektorin der Schwedischen Agentur für Jugend und Zivilgesellschaft (MUCF). Ich habe an der Universität Stockholm Jura studiert und war Kinderbeauftragte in Schweden. Außerdem habe ich mich in der Stadt Stockholm und im Regierungsbüro mit Fragen der Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen beschäftigt.

Veränderungen bei kriminellen Vorfällen in den letzten Jahren

IJAB: In Schweden gibt es schon seit vielen Jahren Probleme mit Banden, Kriminalität und Waffenbesitz. Vor allem junge Menschen, die auch immer jünger werden, sind in kriminelle Handlungen wie Drogenhandel, Betrug und sogar Mord verwickelt. Was hat dazu geführt, dass sich die Situation in den letzten Jahren so drastisch verändert hat?

Lena Nyberg: Die Situation in Bezug auf die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an der organisierten Kriminalität ist in Schweden in der Tat sehr düster. Im Jahr 2024 hat sich die Zahl der Kinder unter 15 Jahren, die im Verdacht stehen, an Morddelikten beteiligt zu sein, im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdreifacht.

Die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an kriminellen Netzwerken unterscheidet sich deutlich von den uns bekannten Formen der Jugendkriminalität, bei denen junge Straftäter*innen in kriminelle Jugendbanden eingebunden sind. Jugendbanden bestehen oft aus gleichaltrigen Freunden, die gemeinsam Straftaten begehen, während kriminelle Netzwerke hierarchisch gesteuert werden, von entwickelten Kontaktnetzwerken abhängen und Zugang zu Drogen und Waffen haben.

Der Hauptgrund, warum kriminelle Netzwerke Kinder und Jugendliche beauftragen, ist die Verringerung der Risiken für ältere Bandenmitglieder*innen. Junge Rekrut*innen gehen große Risiken ein, wenn sie mit Drogen oder Waffen hantieren, so dass ältere Bandenmitglieder*innen einen Sicherheitsabstand einhalten können. Ein weiterer Grund, warum vor allem junge Menschen angeworben werden, ist, dass sie sich häufig mit einer geringeren Entschädigung zufrieden geben. Auch die derzeitigen Strafnachlässe für junge Menschen tragen dazu bei, dass immer mehr Kinder in die organisierte Kriminalität verwickelt werden.

IJAB: Gibt es einen Zusammenhang zwischen Migration und Kriminalität unter jungen Menschen? Was sagt das über die schwedische Politik und Gesellschaft aus?

In der allgemeinen Debatte wurde u. a. festgestellt, dass der Trend zu mehr organisierter Kriminalität und Gewalt mit mangelnder Integration und einem hohen Maß an Migration, beengten Wohnverhältnissen und Segregation zusammenhängt. Auch eine mangelnde Akzeptanz von Gesetzen und Regeln bei Jungen, die sich nicht als Teil der schwedischen Gesellschaft fühlen, wird in der allgemeinen Debatte als möglicher Grund gesehen. Wir sehen, dass Probleme mit kriminellen Netzwerken oft mit problematischen Gebieten zusammenhängen, in denen Kriminelle großen Einfluss haben. Die Situation für Kinder, die in solchen Umgebungen aufwachsen, ist durch mehrere Risikofaktoren auf einer eher strukturellen Ebene gekennzeichnet. Dabei kann es sich um Faktoren wie Ausgrenzung, negative Folgen der Segregation und Erfahrungen mit Diskriminierung und Armut handeln.

Auch allein das Wohnen in bestimmten Wohngebieten oder das Problem von Wohnen auf zu engem Raum kann sich negativ auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen auswirken. Kinder verbringen ihre Freizeit im Freien, unbeaufsichtigt, in einem öffentlichen Raum, den sie mit Kriminellen teilen.

IJAB: Wie hat sich die Jugendarbeit in den letzten Jahren aufgrund dieser Entwicklungen verändert und wie werden junge Menschen von den Banden rekrutiert?

Lena Nyberg: Kinder und Jugendliche werden sowohl in digitalen Foren als auch in ihrem alltäglichen Umfeld für die organisierte Kriminalität rekrutiert. Wenn es um physische Kontakte geht, haben Studien gezeigt, dass es vor allem Kinder sind, die andere Kinder in kriminelle Netzwerke rekrutieren. Typischerweise bezieht ein Jugendlicher im frühen bis mittleren Teenageralter ein etwas jüngeres Kind mit ein.

Kinder und Jugendliche, die in Bandenkriminalität verwickelt sind, haben in der Regel einen Hintergrund mit einer Kombination verschiedener Risikofaktoren. Oft können wir die Nähe zur Kriminalität in ihrer Wohngegend beobachten. Für Kinder, die in einem Gebiet mit vielen Risikofaktoren leben und kriminell aktive Menschen in ihrer Nähe und ihrem Umfeld haben, wird Kriminalität leicht zu einem natürlichen Teil des Lebens. Für manche Kinder erscheinen etablierte Kriminelle in der Gegend als Vorbilder, die ihnen das Bild vermitteln können, dass Kriminalität lukrativ ist, Status und individuellen Erfolg bringt.

Die neueste Entwicklung ist, dass die Anwerbung sogar in digitalen Foren stattfindet. Was früher in Wohngebieten und über einen längeren Zeitraum hinweg stattfand, geschieht nun digital und viel schneller. Kriminelle Netzwerke können im Grunde jeden jungen Menschen erreichen, der diesen Foren beitritt.

Es ist offensichtlich, dass ein schwieriger sozialer Hintergrund ein gemeinsames Merkmal der kriminellen Jugendlichen ist. Aber wir sehen auch, dass junge Menschen, die ein gut funktionierendes Alltagsleben haben, zur Schule gehen, Freizeitaktivitäten nachgehen, zu Hause wohnen und der Polizei völlig unbekannt sind, in schwere Verbrechen verwickelt werden.

Die Rolle der MUCF und der Gewaltprävention

IJAB: Welche Rolle spielt Ihre Organisation MUCF bei der Unterstützung der Jugendarbeit im Bereich der Gewaltprävention?

Lena Nyberg: Die Rolle der MUCF bei der Unterstützung der Jugendarbeit ist durch einen Regierungsauftrag geregelt. Dieser stellt sicher, dass junge Menschen Zugang zu sinnvollen und charakterfördernden Freizeitaktivitäten haben. Die Agentur bietet unter anderem Schulungs- und Fortbildungsinitiativen für Jugendbetreuer*innen an. Dies geschieht durch digitale Schulungskurse, Handbücher und Online-Seminare.

Eine wichtige Voraussetzung dafür, dass Jugendarbeit positive Wirkungen zeigt, ist die aktive Gewaltprävention. Proaktive und methodische Gespräche über Normen und Verhaltensweisen mit jungen Menschen sowie das aktive Einschreiten und Unterbinden jeglicher Form von Gewalt tragen zu einem sicheren Umfeld für junge Menschen bei.

Die MUCF wurde von der Regierung beauftragt, Wissen und Arbeitsmethoden mit Schwerpunkt auf der Gewaltprävention zu erarbeiten und zu verbreiten. Hauptzielgruppen sind Jugendbetreuer*innen und Sportleiter*innen. Im Rahmen dieser Aufgabe bietet die MUCF Materialien und Anleitungen für die Durchführung eines Workshops an. Darin werden Informationen über Gewaltformen und gefährdete Zielgruppen vorgestellt. Ebenso enthalten sind Konzepte für die Gewaltprävention sowie Praxisbeispiele, die sich an realistischen Situationen orientieren, die bei der Arbeit in der offenen Jugendarbeit zum Beispiel auftreten können.

Darüber hinaus beteiligt sich die MUCF an der Zusammenarbeit zwischen den Akteuren auf nationaler Ebene, wenn es um gefährdete junge Menschen und Jugendkriminalität geht. Die beiden gängigsten Formen zur Verhinderung von Straftaten bei Kindern und Jugendlichen sind die Zusammenarbeit zwischen Schule, Sozialdiensten, Polizei und Freizeit (SSPF) und soziale Interventionsgruppen (SIG). An diesen beiden Kooperationen sind die Polizeibehörde, das Nationale Amt für Gesundheit und Wohlfahrt, der Schwedische Nationale Rat für Kriminalitätsprävention, die Nationale Bildungsbehörde, der Schwedische Verband der lokalen Behörden und Regionen und die MUCF beteiligt.

Blick in die Zukunft

IJAB: Wenn wir einen Blick in die Zukunft werfen, was ist Ihrer Meinung nach notwendig, insbesondere für die Jugendarbeit, damit die Kriminalitätsstatistiken unter Jugendlichen wieder sinken und junge Menschen eine Chance auf eine geregeltere Zukunft haben?

Lena Nyberg: Die Verwundbarkeit von Kindern und Jugendlichen in kriminellen Netzwerken ist groß. Auch ihre Familien leben mit der Gefahr, Drohungen und Gewalt ausgesetzt zu sein. Ich möchte wirklich betonen, dass es unsere gemeinsame Verantwortung ist, Kinder zu schützen, und dass ein breites Spektrum an verschiedenen Maßnahmen erforderlich ist, um kriminelle Netzwerke daran zu hindern, Kinder und Jugendliche auszubeuten.

Es ist eine der dringlichsten Aufgaben der Gesellschaft zu verhindern, dass Kinder und Jugendliche in die Bandenkriminalität hineingezogen werden. Der Zugang zu sicheren und sinnvollen Freizeitaktivitäten, z. B. im Bereich des Sports oder der Kultur, sollte gewährleistet sein, da diese wichtige Schutzfaktoren darstellen können.

Neben organisierten Aktivitäten können offene Freizeitangebote für Jugendliche in Jugendzentren und anderen Treffpunkten für Jugendliche dem Gefühl der Ausgrenzung entgegenwirken und es durch ein Gefühl der Zugehörigkeit und des Interesses der Gesellschaft an ihnen ersetzen.

Die Zivilgesellschaft steht dabei immer im Mittelpunkt. Die Agentur (MUCF) vergibt staatliche Fördermittel an Organisationen. Die internationalen Kooperationen geben jungen Menschen die Möglichkeit, in einem anderen europäischen Land einen Freiwilligendienst zu leisten, zu studieren oder ein Praktikum zu absolvieren.

Dies setzt allerdings voraus, dass diese Treffpunkte nicht von Jungen und jungen Männern mit problematischem Verhalten dominiert werden. Offene Freizeitzentren müssen vielmehr eine gemischte Gruppe von Jugendlichen mit unterschiedlichen Hintergründen und Interessen ansprechen und erreichen.

IJAB: Vielen Dank für das Interview.

Vier Uhren mit unterschiedlichen Uhrzeiten
Über die Internationalisierung

Die Kinder- und Jugendhilfe mit ihren Fachkräften und Strukturen muss sich auf die wachsende Bedeutung grenzüberschreitender Lernerfahrungen einstellen.

Internationale Netzwerke und Kooperationen

Die Kooperation in Netzwerken ist eine Chance für Innovation, fachlichen Austausch, konzeptionellen Diskurs und (Weiter-)Entwicklung von Jugendarbeit und Jugendpolitik.